Christian Saalberg (1926-2006)

Werner Bucher

O nein, niemals Schwamm drüber!

Als der hier Schreibende - wir hatten eben auf der Rütegg die „Poesie-Agenda“ für das Jahr 2007 zusammengestellt - durch einen Anruf des Dichters und Herausgebers Theo Breuer erfuhr, dass der deutsche Lyriker Christian Saalberg an Christi Himmelfahrt (25. Mai 2006) gestorben sei, konnte und wollte ich die traurige Nachricht mehrere Stunden lang nicht glauben.
Zwar wusste ich durch Briefe von Christian Saalberg, dass er schwer krank war (er hatte mir unter anderem ein von seinen Ärzten zusammengestelltes Blatt über seine zahlreichen Krankheiten zugestellt), wünschte ihm und mir aber den unguten Ankündigungen zum Trotz aus ganzem Herzen, dass der grosse, im Gegensatz zu manch andern arrivierteren deutschen Kollegen im eigenen Land viel zu wenig anerkannte Poet noch etliche Jahre leben und weitere gute Gedichte schreiben werde. Diesen Wunsch formulierte ich im Autorenregister der Agenda, musste den kurzen Satz aber zwei oder drei Tage, bevor die Manuskripte zur Druckerei gingen, leider, leider ändern.

Christian Saalberg, der eigentlich Christian Rusche hiess, schien unter seiner mangelnden Anerkennung wenig oder vielleicht gar nicht gelitten zu haben. Lieber schrieb er neben seiner vieljährigen Tätigkeit als Anwalt immer wieder Gedichte, fuhr mit seinem dreirädrigen „Ferrari“ von Kronshagen aus zu seinen geliebten Orten rund um Kiel, etwa zum Westensee, auf dem er mit seinem Klepper-Faltboot herumgeschippert ist und sich, wie ich von seiner Tochter erfuhr, „selbst das Segeln beigebracht hat, was dazu führte, dass er öfters mal patschnass nach Hause kam ...“
Oder dann las er Gedichte von andern, meist jüngeren deutschsprachigen Autoren, besonders aber jene der ihm nahen französischen Surrealisten, die er als junger Mann in deutschen Übersetzungen entdeckt hatte und denen er sich bis zu seinem Tode verwandt fühlte, was manche seiner Gedichte und auch die Covers seiner Bücher beweisen.
Aber statt ausführlich auf das Thema Surrealismus einzugehen und nochmals mein Bedauern zu äussern, dass sich der im schlesischen Riesengebirge aufgewachsene Dichter Christian Saalberg trotz Ehrungen, Preisen und der Anerkennung durch jüngere Dichter nie in die Phalanx der Mischler und Erfolgssüchtigen einreihen konnte oder wollte (was für ihn spricht, o ja), statt dies zu tun, freue ich mich lieber, dass Christian Saalberg seit 1963 („Die schöne Gärtnerin“) ungefähr alle zwei Jahre in kleineren, eher unbekannten Verlagen 23 Gedichtbände herausgeben konnte, in denen Leser und Leserinnen immer wieder auf grossartige Gedichte stossen. Vor wenigen Tagen kam dank des Engagements seiner Tochter Viola Rusche ein weiterer Band unter dem sinnigen Titel „An diesem schönen Todestag im Mai“ heraus.

Fast in jedem Gedicht von Christian Saalberg findet man, mal offen, mal mit einem Schuss Surrealismus versetzt, die Auseinandersetzung (ein für Saalberg grobes Wort, ich weiss) zwischen Leben und Tod, denen er beiden mit nie kaschierter Neugier, ja, wenn man so will, hin und wieder sich humorvoll und manchmal mit direkten Fragen angenähert hat, deren Antworten er nun, ich wünsche es ihm, alle wissen dürfte.
Wie immer, seine Gedichte bewegen vermutlich jeden wachen Lesenden auf eine geheimnisvolle, sich letztlich gescheiten Erklärungen entziehenden Art. Und wie sehr der Poet und Mensch Christian Saalberg auf einzelne jüngere, ihm verbundene Dichter wirkte, dürfte das Gedicht „VITA BREVIS“ andeuten, das Jürgen Brôcan „In memoriam Christian Saalberg“ schrieb, darin Themen, Orte antippend, die dem Menschen Saalberg wichtig gewesen sind.

Ich möchte Ihnen das eindrückliche Gedicht von Jürgen Brôcan nicht vorenthalten:

 

 

VITA BREVIS

 

Am Ende hielten ihn bloss die Fäden

seiner Sätze zusammen, zum Lied verknotet von

Winden aus dieser und einer anderen Welt;

 

und an seinem schönen Todestag im Mai

stiegen Seelenvögel auf, aus Attika und Byzanz,

von den Treppen Odessas, den Fassaden der Altstadt Prags,

 

aus den Aschewirbeln über Alexandrias Bibliothek,

und holten ihn ab in Kronshagen, denn es war

Himmelfahrt. Ich lese seinen letzten Brief,

 

mühsam getippt, viele Fehler, weil ihm alles verschwamm

vor Augen, aber er jubelte, er hatte dem Tod noch

einmal Gedichte abgeschwatzt, Gedichte für

 

eine gebrechliche Schönheit. Frühgrau, Kranengesang,

über den Dächern, an Trossen, die hochgehievten Lasten,

schwerelos in den Marmor der Luft gemeisselt,

 

dann werden sie rasch im Boden versenkt, das Tagwerk jetzt

(von hier aus) nicht sichtbarer Arbeiter. Vor Jahren

schickte er ein Paket, schlichter brauner Karton,

 

prall gefüllt mit Gedichtbänden! Und schrieb: "Nichtige

Poesie", obwohl er zweifellos um ihre Kräfte wusste.

Was ihn antrieb: Die bunte Lokomotive

 

der Bilder, die aus dem Urwald untern Schreibtisch tuckert,

in einem vierundzwanzigbändigen Inventar verzeichnet,

vorm Grossreinemachen der Wörterbücher

 

parallel zur ballistischen Kurve. Dies war sein Auftritt

aus namenlosem Gehölz, am offenen Gewässer,

in den Aeroplanen der Imagination:

 

überwältigt von den Dingen, vom Leben

besiegt: triumphale Heimkehr: Geburt und Tod,

beides Gipfel, ihre Reihenfolge jedoch manchmal ungeklärt.

 

(In memoriam: Christian Saalberg, 1926-2006)

Jürgen Brôcan, Jg. 1965, studierte Germanistik und Europäische Ethnologie in Göttingen, lebt in Dortmund. Er arbeitet als Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Englischen und Französischen.

 

Und jetzt etwas, auf das bereits Theo Breuer in der letzten orte-Nummer hinwies. Auf seinem Grabstein wollte Christian Saalberg folgende Inschrift haben:

 

 

Hier ruht

 

CHRISTIAN SAALBERG

Er wollte ein Dichter

werden

 

Schwamm drüber

 

Ich seh’s anders: Christian Saalberg wollte nicht Dichter werden. Er war einer, von allem Anfang an. Und ein „Schwamm drüber“ wird’s nie geben, solange Menschen leben, die gute Gedichte suchen und lieben. Auch im Gedicht „Die Fische“ schrieb C. S. freilich:

 

 

Wer etwas Glück hat, findet auf dem Schwarzmarkt

von Odessa auch die gesammelten Werke von

C.S., unaufgeschnitten und verstaubt, wie es sich

für einen Dichter gehört.

Ein Dichter!

 

Daraus wurde nichts.

Schwamm drüber.

 

Das kommt nicht in Frage, lieber Christian Saalberg.

Wir brauchen, suchen Gedichte, wie du sie geschrieben hast, heute, morgen und überübermorgen. Und dass du „in Ausübung“ deines „poetischen Dienstes, eines Tages alle Reime in einen Käfig gesperrt hast“ und Nachtfalter sie hernach verzehrten, finde ich grossartig; auch dass du, zu lesen im selben Gedicht, heruntergekommen bist in die Gefilde „gewöhnlicher“ Erdenbürger, um dich mit Dorfschönheiten herumzutreiben, Landwein zu trinken und auf eben dieses Gedicht zu pfeifen, verstehe ich ebenfalls ganz und gar.
Aber pfeifen auf deine Gedichte darfst nur du allein. Nicht wir, niemals. Schon gar nicht Kritiker oder meist selbsternannte Literaturlobbyisten, die es bald in jeder grösseren Stadt des westlichen Europa gibt. Und zumindest einmal hast du deine Bescheidenheit oder Demut aufgegeben und im Vorwort zu Namenloses Gehölz gemeint, „wenn alles zu Ende geht, spreche ich noch einmal das Wort ANFANG aus. Bitte, lest weiter“.
Diese fast schüchterne Aufforderung sollten wir beherzigen - zu unserm Vorteil.
Ich jedenfalls bin und bleibe dankbar, dass du gelebt hast und wir deine Gedichte immer und immer wieder lesen können. Vergib mir, bitte, das despektierliche Du, das mir automatisch rausgerutscht ist. Bei einem Glas Landwein, mit oder ohne Dorfschönheiten, wäre es ohnehin gefallen. Und jetzt wage ich, auf deine Gedichte bezogen, zu schreiben, was Hölderlin erahnte: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Wie der grösste Dichter, den die deutsche Sprache wohl je hatte, hast du allerhand gestiftet - fast ein Wunder in unpoetischen Zeiten wie den unsern.
Zwei Gedichte aus deinem letzten, vor deinem Tode erschienen Band Offenes Gewässer mögen es beweisen. Sie gehören zum Zyklus Die Kanonen von Sewastopol.

 

 

IX

 

Angelangt am Rand der Welt sortiere ich, was ich hierlassen,

was ich mitnehmen soll.

Ich hinterlasse euch einen Stapel weisser Blätter, die sich

beharrlich gegen meine Tinte gesträubt haben.

Vielleicht schafft ihr es.

Dann einige verlaubte Blüten, kaum der Mühe wert, sie aufzuheben.

 

Macht damit, was ihr wollt. Trotzdem, das Stroh, das

ihr da zusammenfegt, war einmal mein Leben, ein

schönes Leben, schroff und unnahbar wie der Karst, der

mir ein Mantel war, den ich gern getragen.

 

Ich sage auch dem Tiber valet, dessen Blut dem meinen gleicht

und der ohne Aufruhr ruhig dahinfliesst, obwohl er die

Tempel von Rom mit seinem Blick nur streifen kann.

Für ihn war es das Beste aller Leben - nicht nur für ihn.

 

X

 

Doch ich bin noch nicht am Ende.

Seit wir den Tod erfunden und uns das Sterben

angewöhnt haben, müssen wir noch durch die enge

Pforte, das Nadelöhr, durch das schon so viele gegangen

sind, selbst das Kamel.

 

Es geht.

Ich werde es euch zeigen.

 

Vielleicht zeigt er’s - um das Du kurzfristig aufzugeben - einigen ihm nahen Menschen, wenn das Nadelöhr auf sie wartet. Wichtig aber, dass Christian Saalbergs Gedichte gelesen werden. Schon wegen seines leisen, surrealen Humors. Etwa, wenn er schrieb, Cocteau sei in einer Mondnacht auf einem rechten Trottoir gegangen und man hätte auf dem linken seine Schritte gehört ...
Aber jetzt geb ich’s auf, aus Saalbergs Gedichten zu zitieren. Lesen Sie lieber welche auf den nächsten Seiten. Mehrmals, so hoffe ich. Und vielleicht, wer weiss, fliegt der Dichter dann auf einmal in seinem „Ferrari“ an oder über Ihrem Kopf vorbei. Keine Angst, über 25 km fährt und fliegt er nie. Daran hielt er sich schon zu Lebzeiten. Auch das gehörte und gehört zu Christian Saalberg. Und mehr, sehr viel mehr. Danke, Christian Saalberg. Dich in Gedichten zu spüren, ist ein Geschenk.

Werner Bucher