Christian Saalberg (1926-2006)

Thomas Böhme

„Vom Leben besiegt“

Zum Tod von Christian Saalberg

„Vom Leben besiegt“ ist der Titel eines von mehr als 20 Gedichtbänden des am Himmelfahrtstag 2006 verstorbenen Dichters Christian Saalberg. Vom Leben besiegt, könnte als poetisches Credo über vielen seiner Gedichte stehen. Vom Leben besiegt, das hieß bei Saalberg, überwältigt sein von der Fülle des Lebendigen, zu dem nach seiner Vorstellung auch die Gestirne und Steine zählten, die Schwierigen Ruinen Prags ebenso wie die Schatten der Statuen oder das Gezwitscher der toten Vögel: Ein Steingesicht mit Blutflecken in den Mundwinkeln, das zu sprechen beginnt,... oder Die Statuen wandeln auf und ab, versunken in Melancholie. („Das Weite suchen“, 2001) In Saalbergs pittoresken Landschaften hallen die Schritte der großen Surrealisten nach, seine Traumgesichte und Phantasmagorien erinnern an die Collagen Max Ernsts oder die mystischen Visonen de Chiricos, vorgetragen in einem unaufgeregten Ton, der die Gegenstände selbst zur Sprache kommen läßt.

Geboren wurde er am 10. Dezember 1926 in Hirschberg/Riesengebirge. Seit vielen Jahren lebte er in Kronshagen bei Kiel, wo er bis 1991 als Rechtsanwalt und Notar tätig war. Ein Dichter vom Rang Pessoas, will ich meinen, dessen Vielgestalt es erst noch zu entdecken gilt. Daß die geflügelten Fabriken des Landes nicht Halbmast geflaggt haben in diesen für Ende Mai viel zu kalten und viel zu feuchten Tagen, verwundert freilich nicht. Saalbergs Gedichtbände erschienen ja auch nicht bei Suhrkamp sondern in kleinen Auflagen und edler Aufmachung in Verlagen, deren Titel man seit langem vergeblich in den Buchhandlungen sucht: im Regio Verlag Glock und Lutz Sigmaringendorf, bei Roderer Regensburg und zuletzt im zu Klampen Verlag Springe. Was nicht heißt, daß Saalberg nicht hochangesehen war; immerhin Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums und vielfach geehrt (u.a. mit dem Lenau-Preis, dem Eichendorff-Preis und der Ehrengabe zum Andreas-Gryphius-Preis), kannten ihn zumindest die Eingeweihten, sprich die, die selbst schrieben und irgendwann auf Gedichte von ihm gestoßen waren. Sein Name wurde weitergereicht auf die älteste Art der Nachrichtenverbreitung: von Mund zu Mund, und wer sich einmal auf die Magie seiner Sprache eingelassen hatte, kam so bald nicht wieder von ihr los. Denkbar auch, daß die Sonne, der Wind und das Meer, die Vögel, Fische und Falter ihn rühmten, als den, der ihnen Gestalt und Stimme gegeben hatte: ...Vorsichtig steigen die Vögel von den Bäumen, eine/ Laterne in der Hand, um nicht zu stolpern.(...) Die Sonne hat ihr Augenlicht verloren und das Licht/ ist mit dem letzten Zug davongefahren. (Vor dem Portal) oder Der Schmerz holt sich seine entlaufenen/ Priester zurück und das Meer ist feucht von// den Tränen der Fische. Ich lasse mir mit der/ transsibirischen Eisenbahn weiße Nachtigallen// kommen, die mir von Mastodonen berichten,/ die dort friedlich grasen. („Offenes Gewässer“, 2005)

Christian Saalberg blickt hinter den Schleier des Sichtbaren, ohne das Augenscheinliche dabei zu vernachlässigen. Die Dinge, die ihn umgeben, sind ihm so wichtig, wie der Kosmos, in dem sich die Erdscheibe um ihre Achse dreht. Gemäß dem Motto Die Dinge sind älter als wir und wissen mehr über uns als wir über sie versteht er es, ihnen zuzuhören und sich voller Staunen an ihren Verwandlungen zu ergötzen. Die Steine können mit geschlosenen Augen sehen. Sie besiegen ihre Furcht, bewacht von Augen, die hinter Vitrinen lauern. Erregt vom Gewicht ihrer Schultern versinken die Vögel im Schnee. („Das Weite suchen“) Diese Lust bedeutet immer auch Demut vor dem Wunderbaren, das sich dem Dichter und damit uns offenbart. Standbilder steigen von ihren Sockeln, um als Führer durch entvölkerte Städte zu dienen. Steine, Bäume, Ruinen sind von Graffiti übersät, Schatten, Bäume, ja, ganze Wälder befinden sich auf Wanderschaft. Reisende aus Fernen und Zeiten nehmen uns bei der Hand, führen uns zu entlegenen Stätten der Götter- und Menschheitsgeschichte, zum Amazonas, nach Istanbul, Lissabon, Prag, Odessa, Paris. An den Schnittpunkten seiner Pilgerfahrten läßt Saalberg uns teilhaben an der Zwiesprache mit Engeln und Heiligen, Dirnen und Dichtern, Freibeutern und Generälen. Doch auch der scheinbar so mühelos zwischen den Zeitaltern und Weltenden Umherschweifende weiß, daß ihm nichts geschenkt wird. So finden sich mitunter Selbstzweifel an der eigenen Kreativität, und als Beschwörungen, die das Scheitern bannen sollen, stehen Verse wie folgende: Manchmal schreibe ich eine Zeile und warte,/ ob noch etwas kommt./ Doch es kommt nichts. Oder Das Gekritzel meiner Tintenspur, Hieroglyphen,/ die niemand entziffern kann, ein falscher/ Glanz, über den die Sonne mit dem Wischtuch fährt. („Namenloses Gehölz“,1999) Solche Befürchtungen, mögen sie auch angesichts der Fülle und der Deutlichkeit der Bilder unbegründet sein, kennt jeder, der schon einmal das Gefühl hatte, die Worte waren nicht da, wo sie hingehörten.

In Saalbergs letzten Gedichtbänden werden immer wieder der Tod und das Sterben beschworen, so als habe sich der Dichter seinen eigenen Nekrolog, sein eigenes Requiem schreiben wollen, eingedenk der Tatsache, daß es doch kein anderer besser machen wird. Resig-nation wäre nicht das richtige Wort für diese Auseinandersetzung mit dem Tod, eher eine durchheiterte Trauer und ein kämpferisches Trotzalledem. Der Zyklus Nocturno aus „Offenes Gewässer“ (2005) beginnt so: Heute nacht bin ich dem Tod begegnet./ Ich ging freudig auf ihn zu, doch er// stieß mich zurück und tat, als kenne/ er mich nicht. Dabei sind wir alte// Freunde und haben Briefe gewchselt./ Warum geht er mir aus dem Weg? Und auch die Verse in dem Gedicht Ich habe niemals Städte gesehen aus „Hier wohnt keiner“(2003) zeugen zwar von Respekt doch nicht von Angst vor dem mächtigen Gleichmacher: Wenn ich tot bin und mein eigenes Herz schlagen/ höre, wird man mir ein Menu servieren, von/ Dem ich nichts esse, weder von den Waldvögeln/ und ihrem Streit, noch von den schwarzen/ Ästen, dem dunklen Strauß der Schmerzen,/ von den durchziehenden Dieben, von dem/ Lachen der jungen Mädchen, deren Hüften sich/ biegen, deren Brüste mich durchbohren.

Ja, vor der grossen Müdigkeit muß man sich/ in acht nehmen. Doch letztendlich schreckte ihn nicht der Tod, sondern die Unachtsamkeit, mit der man sein Nahen versäumt, oder die Eitelkeit derer, die mit schweren Sohlen über die Erde gehen, die den Kopf nicht tief genug neigen. Es mag mehr als nur eine Metapher sein, daß Christian Saalbergs Tod mit dem Himmelfahrtstag zusammenfällt. Der Himmel, der mit so vielen vertrauten Gestalten bevölkert war, bedeutete für ihn nie einen transzendenten Ort, vielmehr ein Bauwerk, das auf halbem Wege/ steckengeblieben ist, denn Auch der Tod dauert nur, solange er dauert./ Dann muß man weitersehen. (Leeres Haus, in „Namenloses Gehölz“)

Meine Begegegnungen mit Christian Saalberg beschränkten sich auf den Austausch von je einem halben Dutzend Briefen, Fotos, Büchern und auf einige Telefonate im letzten Jahr. Seine Briefe begannen stets mit der verpflichtenden und herzlichen Anrede „Lieber Freund“. Die Liebe zu alten Dingen und Worten verband uns, die Sehnsucht nach Dampflokomotiven oder ein aus der Mode gekommenes Wort wie Aeroplane. Einmal schickte er mir ein Foto von sich, mit Strohhut beim Eisschlecken, und ein anderes Mal ein Bild seiner klapprigen Reiseschreib-maschine „Hermes Baby“ von 1951. Es waren verschmitzte Gesten, mit denen er wohl sagen wollte, nehmen Sie das alles nicht so ernst. Gern hätte ich ihm noch die Hand gedrückt, doch ich wußte bereits, daß ihn ein Besuch zu sehr anstrengen würde: Im Dämmerlicht nehme ich mir die Hand/ von der Stirn, Stütze der Erinnerung, Um die vergessenen Zimmer nicht zu stören,/ die wie die Statuen den Wunsch haben,/ Alleingelassen zu werden... („Das Weite suchen“). Indessen, Trauer ist etwas Flüchtiges, ein Schatten auf der Sonnenuhr, hatte Saalberg sie genannt. Das Dauerhafte werden Saalbergs Gedichte bleiben, die, da bin ich mir sicher, noch für manche Überraschung sorgen werden. Denn Mit der Dichtkunst/ ist das so:// Die Wörter wollen/ aufgeschrieben werden,/ weiter nichts.// Gott weiß, warum.

 Anstatt Kränze und in Stein gemeißelte Schrift wünschte Christian Saalberg sich vor allem dies: Komm, großer Wind, wehe/ Lege ein Lächeln auf mein Grab. Ich meine, diese Bitte wird ihm nicht verwehrt bleiben.